Anne Brontë: Agnes Grey | Rezension, Schuberexemplar

Vom Wusch, Gouvernante zu werden und sich selbst treu zu bleiben.

Als sich eine junge, vornehme Frau aus gutem Hause entscheidet, einen Geistlichen zu heiraten, wird sie enterbt und verliert jeglichen Kontakt zu ihrer Familie. Von da an muss sie auf alle Annehmlichkeiten verzichten, die sie bislang kannte, doch bereuen wird sie ihre Entscheidung nie.

Spätestens als ihre Töchter Mary und die jüngere Agnes geboren werden, ist ihr Glück perfekt. Doch ihr Mann kann nie ganz überwinden, dass er seine Frau um so vieles gebracht hat, und investiert in riskante finanzielle Geschäfte. Als sich seine Hoffnungen zerschlagen, steht die Familie einem Schuldenberg gegenüber. Während die ältere Tochter Mary selbst gezeichnete Aquarelle verkauft, will Agnes eine Stelle als Gouvernante antreten, um die Familie unterstützen zu können.

Doch obwohl Agnes überzeugt ist, als Erzieherin zurechtzukommen, da sie sich selbst noch gut in ihre Bedürfnisse einzufühlen zu können glaubt, stößt sie vor viele Probleme. Während die Erwartung an sie kaum größer sein könnten, hat sie bei der Wahl ihrer Erziehungsmethoden allerlei Einschränkungen hinzunehmen.

»Hätte sie der Gattung der Tiere angehört, wäre Matilda akzeptabel gewesen in ihrer Lebhaftigkeit, Vitalität und ihrem Bewegungsdrang, als menschliches Wesen aber war sie ungeheuer einfältig, ungelehrig, gleichgültig und unvernünftig und somit eine Qual für jemanden, der die Aufgabe hatte, ihren Verstand zu entwickeln, ihre Umgangsformen zu verbessern und ihr zu helfen, sich zu schmücken und zurechtzumachen, was sie, im Gegensatz zu ihrer Schwester, wie alles andere auch verachtete.«

Agnes merkt schnell, dass die Wertevorstellungen ihrer Schützlinge und ihrer Familien weit entfernt von ihren eigenen liegen. Da sie sich kaum mit jemandem austauschen kann, der ihr ähnlich ist, beginnt die junge Frau, zu vereinsamen.

Agnes Grey erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die durch ihre berufliche Stellung in einer Art ›Dazwischen‹-Zustand leben muss. Weder zu den vornehmen Personen gehörend, die sie erziehen muss, noch zur Dienerschaft, scheint sie für die meisten Menschen um sie herum fast unsichtbar zu sein. Sie wird selten gegrüßt oder angesprochen, noch seltener nach ihrem Befinden gefragt.

Doch während Agnes für die meisten ihrer Mitmenschen unsichtbar ist, nimmt die junge Frau die Welt um sie herum wahr: die Liebeleien und Verfehlungen ihrer Schüler und Schülerinnen. Zwar ist diese Wahrnehmung durchweg durch Agnes besonderen Blick auf die Welt gefärbt – sie ist christlich erzogen und schätzt vor allem christliche Tugenden wie die Nächstenliebe –, doch ermahnt sie sich mehrmals zur Reflexion.

So legt Anne Brontë in ihrem Romandebüt Agnes Grey eine Charakterstudie vor, die durch die kontrastierende Gegenüberstellung von Personen an Schärfe gewinnt.

»… da ich es aber mit eigenen Augen sah und auch darunter litt, konnte ich nur folgern, dass übermäßige Eitelkeit genau wie Trunksucht das Herz verhärtet, die natürlichen Anlagen verkümmern lässt und die Gefühle verdirbt; und dass Hunde nicht die einzigen Geschöpfe sind, die, nachdem sie sich bis obenhin satt gefressen haben, sich noch über das freuen, was sie gar nicht mehr herunterbringen, dem hungernden Bruder aber noch den kleinsten Bissen missgönnen.«

Dieser wunderschöne Schuber, dessen einzelne Romane mit Nachworten versehen sind, lädt dazu ein, die drei großen Romane der Brontë-Schwestern vergleichend zu betrachten.

So fällt auf, dass Agnes Grey weit weniger unheimlich und rätselhaft erscheint als das Anwesen in Jane Eyre oder die Moorlandschaft von Sturmhöhe‹. Auch die zerstörerische Leidenschaft, die vor allem Sturmhöhe‹ innewohnt, scheint dem Roman fern. Und doch erzählt Agnes Grey auf seine Weise die Geschichte einer jungen Frau, die sich ihren Weg vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Stellungen, Hinterlist und Liebe zu erkämpfen suchte.

»Das menschliche Herz ist sehr dehnbar: Schon eine Kleinigkeit lässt es schwellen, aber es bedarf großer Anlässe, es zum Bersten zu bringen. Denn wenn auch ›schon ein wenig mehr als nichts das Herz beunruhigt, brauchts doch kaum weniger als alles‹, es zu brechen. So wie unsere Gliedmaßen besitzt auch das Herz eine eigene lebendige Kraft, die es gegen Verletzungen von außen stark macht.«

Fazit zu ›Agnes Grey

Nach ›Agnes Grey‹ veröffentlichte Anne Brontë (1820–1849) nur ein weiteres Werk – ›The Tenant of Wildfell Hall(›Die Herrin von Wildfell Hall‹) –, bevor sie 1849 im Alter von 29 Jahren verstarb. Doch das im Vergleich zu ›Jane Eyre‹ und ›Sturmhöhe‹ oft weniger bekannte Werk der jüngsten der Brontë-Schwestern ist definitiv eine nähere Betrachtung wert.

Buchinfo

Anne Brontë:
Agnes Grey

Teil des Schubers: Die großen Romane
der Schwestern Brontë
Reclam, Stuttgart 2020
1434 S. (256 S.), EUR (D) 28,- inkl. MwSt.
gebunden, im Schuber
ISBN 978-3-15-030066-4

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Das hier dargestellte Cover und die angegebene Ausgabe können von den derzeit erhältlichen Ausgaben abweichen.


Bewertung: 3.5 von 5.

Werke der Autorinnen (Auswahl)

Anne Brontë: Agnes Grey
Charlotte Brontë: Jane Eyre
Emily Brontë: Sturmhöhe



2 Antworten zu „Anne Brontë: Agnes Grey | Rezension, Schuberexemplar”.

  1. Ich liebe die Brontë Schwestern. „Jane Eyre“ war neben „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Marquez der erste Roman, der mich in die Welt Erwachsenenliteratur eingeführt hat. Toller Tipp – danke!

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    1. Sehr gerne 🙂 Für mich fing es auch unter anderem mit den Brontë Schwestern an 🙂 Da steckt einfach so viel drinnen

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