Eine (Ideen)geschichte Japans.
Nicht weniger als opulent. So lässt sich das neue Werk von Wolfgang Schwentker beschreiben. Der Historiker und Japanologe hat mit seiner ›Geschichte Japans‹ ein Standardwerk der neueren und neuesten Japanforschung vorgelegt und seiner jahrzehntelangen Beschäftigung damit ein würdiges Denkmal gesetzt. Welche Komplikationen ein solches Unterfangen mit sich bringt, beschreibt Schwentker mit Verweis auf die verschiedenen Wissensgebiete und Schreibsituationen:
»Wenn ich mit diesem Buch eine Geschichte Japans vorlege, so haftet dem etwas Kühnes, ja geradezu Vermessenes an. Als Autor einer Synthese ist man gezwungen, sich auf Gebiete zu begeben, auf denen man die Quellenlage nicht zur Gänze übersieht. Mehr noch als sonst ist man auf die Studien von Kolleginnen und Kollegen angewiesen. Dieses Buch ist nicht zuletzt deshalb in Bibliotheken geschrieben worden.«
Mit »kühn« trifft es Schwentkers Selbstbeschreibung sehr genau. Denn das bei C. H. Beck erschienene Großprojekt kommt auf ein Gesamtvolumen von über 1000 Seiten. Natürlich macht ein Buch nicht allein aufgrund quantitativer Erwägungen von sich reden. Jedoch ist die vorhandene Stoffdichte und Stofftiefe gerade bei Alterswerken – man denke an Habermas’ 2019 erschienene Philosophiegeschichte, die sogar in zwei Bänden gedruckt werden musste, da sie auf stolze 1700 Seiten Gesamtvolumen kam – nicht uninteressant. Beck hätte durchaus den Weg einer doppelbändigen Veröffentlichung gehen können, durch die Verwendung des Dünndruckpapiers konnte man aber ein gebundenes und schön gestaltetes Buch herausbringen.
Doch worum geht es in dem Buch, worum geht es Schwentker, der bereits mit ›Die Samurai‹ einen schmalen Band zur Geschichte der berühmten Kriegerkaste bei Beck veröffentlicht hat? Hierzu orientiert sich Schwentker in kritischer Auseinandersetzung am Historiker Tsuda Sōkichi, nach dessen Auffassung Japan im Sinne der Singularität eine »eigenständige Zivilisation und keine chinesische Leihkultur« sei:
»Ungeachtet all dessen, was man heute gegen die Auffassungen Tsudas vorbringen könnte, lässt sich doch mit gutem Recht behaupten, dass er in seinem Aufsatz über die ›Besonderheiten der japanischen Geschichte‹ jene Grundfragen angeschnitten hat, die über die Epochen hinweg helfen, die Entwicklung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Japan zu strukturieren.«
Schwentker nutzt Tsudas Arbeiten als Grundlage und roten Faden für seine eigene Geschichte:
»Sie führen zum Leitmotiv dieses Buchs: gemeint ist das spannungsreiche Verhältnis von ›Innen‹ (uchi) und ›Außen‹ (soto) und die (von Tsuda nicht mehr gestellte) Frage, unter welchen politischen, sozio-ökonomischen oder kulturell-religiösen Bedingungen es zu einem Wechsel der jeweiligen Perspektive von ›Außen‹ (der offene Blick auf die Welt, jenseits des japanischen Inselarchipels) nach ›Innen‹ (Distanzierung von der Welt und Orientierung auf das ›Eigene‹) bzw. in die umgekehrte Richtung kommt. Diese Kernfrage durchzieht das Buch wie ein roter Faden.«
Schwentker hat sein Buch in zehn Kapitel aufgeteilt und schlägt einen zeitlichen Bogen von der japanischen Ur- und Frühgeschichte bis in die Gegenwart. Um einen ersten Eindruck des Ansatzes Schwentkers zu bekommen (und um sich ins Buch führen zu lassen) lohnt sich die Lektüre der Einleitung. Der Autor gibt in kurzen aber instruktiven Exkursen eine Art Vorkurs, der das Grundwissen zu japanspezifischen Fragen festigt.
»In seinem letzten großen Werk befasste sich der renommierte Literaturhistoriker Katō Shūichi mit dem Thema von ›Zeit und Raum in der japanischen Kultur‹. Im Vergleich zu den Zeitauffassungen anderer Kulturen, etwa des Judentums und Christentums, entwickelte Katō für die japanische Kultur eine Typologie japanischer Zeiten, die er jeweils drei verschiedenen Dimensionen zuordnet.«
Das Spannungsverhältnis von Innen und Außen ist es, das Schwentker in seiner Untersuchung maßgeblich ins Zentrum seines Interesses rückt. Es geht also um die Gegenüberstellung von außen an Japan herangetragene Erwartungen und den Fragen der »Selbstauslegung« im Verlauf der Geschichte.
»Zur Selbstauslegung der eigenen Geschichte dienten in Japan über Jahrhunderte hinweg die Sammlungen und Aufzeichnungen alter Mythen. Das älteste Zeugnis dieser Art ist das ›Kojiki‹ (›Aufzeichnen alter Begebenheiten‹) aus dem Jahr 712. Es wurde von Tenmu Tenno […] in Auftrag gegeben, konnte aber zu seinen Lebzeiten nicht fertiggestellt werden.«

Da Schwentker ein handwerklich versierter Historiker ist, geht er chronologisch vor. So referiert er im ersten Kapitel über die »Wanderungsbewegungen im Paläolithikum« und der ersten »Siedlungs- und Staatenbildung in der Yayoi-Zeit«, um sich dann über das Frühmittelalter (»Die Fujiwara an der Macht, 901–1068«) und die Zeit der Reichseinigung (»Zeitenwechsel«) bis in die Gegenwart Shinzō Abes (»Politik in einer sich verändernden Welt«) zu bewegen.
Des Weiteren bezieht Schwentker in seinem Buch auch religiöse Problemstellungen mit ein und skizziert die Bedeutungen des Buddhismus und Shintoismus für die japanische Gesellschaft:
»Für Japan kann als gesichert gelten, dass der Buddhismus im zweiten Drittel des 6. Jahrhunderts allmählich bekannt wurde, und zwar zuerst am Hof und unter den Kaufleuten im Süden. […] Wie gelang es nun dem Buddhismus, sich im 7. Jahrhundert in Japan festzusetzen und langfristig zu behaupten? Worin lag die Faszination, die vom Buddhismus zunächst auf die herrschenden Eliten, später auch auf die breiten Schichten der Bevölkerung ausging?«
Fazit zu ›Geschichte Japans‹
Wolfgang Schwentker gelingt in seiner ›Geschichte Japans‹ eine Synthese aus historisch-politischer Darstellung mit wissenschaftlichem Anspruch. Sicher ist der Umfang groß, jedoch durchstreift Schwentker mehrere Jahrhunderte japanischer Geschichte und verharrt dabei nicht im trockenen Studierzimmer, sondern blickt anekdotisch zu den Seiten hin. Die Lektüre ist nicht immer leicht, lohnt sich aber – für Leser:innern außerhalb und innerhalb des akademischen Raums.
Buchinfo

Wolfgang Schwentker:
Geschichte Japans
C. H. Beck, München 2022
1050 S., EUR (D) 49,95 inkl. MwSt.
Hardcover
ISBN 978-3-406-75159-2
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